Wenn Grundrechte vermeintlich gegeneinanderstehen

Ich habe es bis vor kurzem nicht für möglich gehalten: So schwerwiegende, kollektive Grundrechtseingriffe akzeptieren und mittragen müssen, wie wir sie in Baden-Württemberg und bundesweit derzeit erfahren. Ja, unsere Vorstellung von einer offenen und liberalen Gesellschaft beruht auf Kommunikation, individueller Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Berufsfreiheit. Alles das wird jetzt in ganz schwerwiegender Weise eingeschränkt. Aber ein Wesensmerkmal einer offenen, liberalen Gesellschaft ist auch: Die Solidarität. Es gilt nicht „Survival of the Fittest“. Sondern sowohl der Staat als auch die Gesellschaft tragen eine Verantwortung für die Schwachen.

Die Grundrechte gewähren daher nicht nur Freiheitsrechte, die gleichsam Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe sind, sondern sie geben den Bürgerinnen und Bürgern auch einen Schutzanspruch: Aus dem Recht zu Leben und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 II des Grundgesetzes folgt die Pflicht des Staates tätig zu werden, wenn diese Rechte bedroht sind. Nun ist es nicht selten der Fall, dass die Ausübung eines Rechts unweigerlich damit einhergeht, dass die Freiheiten eines anderen eingeschränkt werden. Die Entscheidungen darüber, wie diese Rechte in einem angemessenen Ausgleich gebracht werden können, ist keine Reißbrettartige. Sie erfordert eine feine Abwägung:

Selbstverständlich muss der Staat bei jeder einzelnen Maßnahme prüfen, ob sie tatsächlich geeignet ist, die Infektionsgefahr in nennenswertem Umfang zu minimieren. Er muss prüfen, ob er nicht mit Kanonen auf Spatzen schießt. Die widerstreitenden Rechte müssen wir so in Ausgleich bringen, dass sie alle möglichst weitgehend zur Geltung kommen. Und er muss letztlich entscheiden, ob es angemessen ist, vorübergehend fundamentale Grundrechte – unter anderem die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Recht auf Freizügigkeit (Art 11.) und die Berufsfreiheit (Art. 12) – massiv einzuschränken, um das Leben vieler zu schützen.

Hier müssen wir derzeit vor allem den Wissenschaftler*innen vertrauen. Sie sagen uns, dass nur ein Abflachen der Kurve durch Reduzierung der Kontakte vor einem unkontrollierten, exponentiellen Ansteigen der Infektionszahlen schützt. Dieses Abflachen benötigen wir aber im Moment, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern – nur so können wir gewährleisten, dass wir alle hilfsbedürftigen Kranken behandeln können. Das Verfassungsrecht gewährt der Politik bei solchen unsicheren Prognoselagen einen sehr großen Beurteilungsspielraum. Ich finde, dass angesichts der vorgezeichneten Parameter – das Risiko einer Pandemie ungeahnten, ja, tödlichen Ausmaßes einerseits, andererseits die vorübergehende Einschränkung unserer Freiheiten – unser Staat die richtige Entscheidung getroffen haben.

Zu der Kritik, es bestehe keine Rechtsgrundlage für die Maßnahmen: Für Einschränkungen der Grundrechte bedarf es konkreter Gesetze. Die Länder stützen ihre Rechtsverordnungen auf § 28 Infektionsschutzgesetz. Zu Recht wird die Frage gestellt, ob eine Generalklausel zu solch weitreichenden Grundrechtseingriffen ermächtigen kann. Diese Besorgnis teile ich. Allerdings möchte ich auch auf zwei Aspekte hinweisen: Zum einen wurde der § 28 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz inzwischen vom Bundesgesetzgeber konkretisiert. Zum anderen sind Grundsätze wie die Wesentlichkeitstheorie und die Reichweite der Einschätzungsprärogative der Landesregierungen immer im Kontext der Situation auszulegen:

Wir erleben eine Situation, in der es gerade unser offenes, freiheitliches, geselliges, geschäftiges Leben ist, welches die Gefahr einer nicht selten schweren, gar tödlichen Virus-infektion mit sich bringt. Es droht der Kollaps unseres Gesundheitssystems, eine Situation, in der Ärztinnen und Arzte entscheiden müssen, welches Leben sie retten und welches nicht. Bei so neuartigen Herausforderungen wie der CoronaKrise können daher nach Ansicht gewichtiger liberaler Stimmen im Verfassungsrecht zumindest für eine bestimmte Zeit auch sehr intensive Maßnahmen auf Generalklauseln gestützt werden. Das gilt v.a. dann, wenn das Absehen von den Maßnahmen zu schwerwiegenden Gefahren führen würde.

Nach Überwinden der Krise halte ich es aber für notwendig, dass der Bundesgesetzgeber auf die kritische Verfassungsdebatte reagiert und die Ermächtigungsgrundlagen für die Länder näher konkretisiert.

Für uns war und ist es als Regierungsfraktion in Baden-Württemberg entscheidend, dass wir uns strikt an die Verfassung halten und keine unverhältnismäßigen Maßnahmen beschließen. So hat sich unser Ministerpräsident beispielsweise beim Gipfel mit den 16 Ländern und dem Bund erfolgreich dafür eingesetzt, von Ausgangsverboten abzusehen. Denn entscheidend ist die Reduzierung der Kontakte und nicht die Reduzierung der Bewegungsfreiheit. Das wurde inzwischen – gegen den Willen von Unionspolitikern wie Söder – bundesweit durchgesetzt. Das ist ein grüner Erfolg. Wir haben uns auch von Anfang an strikt gegen die Erstellung von Bewegungsprofilen oder die Ortung von Infizierten mittels Funkzellendaten ausgesprochen. Das wäre schon deshalb unverhältnis-mäßig und damit auch verfassungswidrig, weil der Nutzen sehr gering ist – die Maßnahme also kaum geeignet ist. Mit viel Kraft und öffentlichem Druck ist es uns gelungen, dass diese Regelungen aus dem Spahn-Gesetzentwurf verschwunden sind. Auf der anderen Seite zeigen wir uns offen für eine App, die keinerlei Bewegungsprofile erstellt, aber mögliche Kontakte zu Infizierten auf freiwilliger Basis anonymisiert und nachver-folgen kann, s. https://www.tonline.de/nachrichten/deutschland/id_87615860/kampf-gegen-coronavirus-die-corona-app-muss-schnellstmoeglich-kommen.html.

Um den Prozess, der da läuft, deutlich zu machen: Welche Maßnahmen noch angemessen sind, müssen wir jeden Tag neu hinterfragen. Und es wird jeden Tag auf das Neue hinterfragt! Es ist nicht so, dass Grundrechtseinschränkungen einmal beschlossen werden und dann einfach unhinterfragt gelten. Das Gegenteil ist der Fall! Denn mit jedem weiteren Tag werden die Opfer, die den Bürger*innen, der Gesellschaft und der Wirtschaft abverlangt werden, größer. Die Restriktionen können daher nur begrenzte Zeit aufrechterhalten werden.

Wir beginnen jetzt die Diskussion, wie mögliche Szenarien zum Ausstieg aus den Restriktionen aussehen. Nach Ostern müssen die erarbeiteten Szenarien transparent, breit und offen in der Gesellschaft diskutiert werden. Ich hoffe, dass die Medizin uns signalisieren kann, dass die Kontakteinschränkungen u.v.a. mehr ihre Ziele erreichen. Werte wie Freiheit und ein soziales Miteinander dürfen auf keinen Fall verloren gehen. Auch wenn wir im Moment eine Lockerung der Regeln noch nicht für möglich halten, gilt ganz klar für uns: Die Verfassung gilt uneingeschränkt. Die Grundrechte werden radikal und uneingeschränkt wiederhergestellt werden. Daran lassen gerade wir GRÜNE uns messen!

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